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Allgemeine Vorbemerkungen - Die Bahnlinie Bozen-Meran
23.10.2006
Jahrhundertelang war die kürzeste und direkteste Verbindung zwischen dem Norden Europas und Italien über den Brenner auch die beliebteste. Erst mit dem Bau der Eisenbahnen verschob sich diese Vorliebe dorthin, wo das neue Verkehrsmittel schnellere und leichtere Möglichkeiten anbot. Damit verlagerte sich auch der Strom der Handelsgüter und der Absatzmöglichkeiten zuungunsten von Südtirol, was diese Region wegen der relative späten Fertigstellung der Brennerbahn 1867 wirtschaftlich und touristisch deutlich zu spüren bekam – ebenso wie den Aufschwung, der nach der Vollendung dieser wichtigen europäischen Nord-Süd Verbindung einsetzte.

Schon nach der Fertigstellung der Bahnstrecke Verona-Trient-Bozen 1859 hatte sich gezeigt, daß die mit der Trassierung der Bahnstrecke verbundene Regulierung der Etsch und insbesondere die Trockenlegung der Sumpfgebiete um Salurn großen Gewinn für die Bodenwerte und die Landwirtschaft erbrachte. Dazu kam dann noch die leichtere und schnellere Vermarktung von Wein und Obst sowie des Porphyrgesteins, welches in der gesamten K.K. Monarchie zur Straßenpflasterung sehr gefragt war. Der aufkommende Tourismus als eigener neuer Wirtschaftszweig tat sein Übriges.

Mit diesen Perspektiven wurde mit Nachdruck an der Verwirklichung der ersten Vicinal-Bahn der Monarchie zwischen der Landeshauptstadt Bozen und dem aufstrebenden Weltkurort Meran geplant.

Die ersten Bahnstrecken Österreichs wurden über staatliche Konzessionen mit privatem Kapital errichtet. Aber schon bald (1841) wurde durch Regierungsbeschluss der Bau eines landesweiten Eisenbahnnetzes auf Kosten des österreichischen Staates genehmigt und die Generaldirektion der Staatsbahn in Wien eingerichtet. Ihr unterstanden die einzelnen Staatsbahngesellschaften. Die Staatsbahn fühlte sich zunächst nicht für lokale Linien und deren Finanzierung zuständig und überließ diese Bauaufgaben den interessierten Kommunen – bisweilen mit der Beteiligung staatlicher Gelder. Aus dieser Position ist zu verstehen, daß neue Eisenbahnlinien von Konsortien mit Privatkapital errichtet wurden, die ihren Aktionären beträchtliche Gewinne verschafften.

Für die geplante Bahnstrecke Bozen-Meran gab es auf diese Weise verschiedene Anläufe: Mit einer Konzession von 1869 für diese Strecke, die durch den Vinschgau bis ins schweizerische Chur weitergeführt werden sollte, verliefen die Planungen von Wilhelm Nast bald im Sande.
Neu aufgegriffen wurde das Projekt Bozen-Meran und evtl. bis Chur von einem Südtiroler Consortium, dem unter der Leitung von Carl Freiherr von Schwarz, Johann von Putzer-Reibegg und Eduard von Weinhard nach der Vorlage eines Vorprojektes 1872 die Konzession erteilt wurde. Das Consortium erhoffte sich die Realisierung des Projektes zumindest bis zur Schweizer Grenze durch den Salzburger Eisenbahnunternehmer, Baurat Carl Ritter von Schwarz, der die Konzession noch 1872 erwarb, eine Trassenrevision vornahm und die Finanzierung gesetzlich sicherstellte.
Durch übertriebene Bodenpreisforderungen der betroffenen Anrainer im Januar 1873 ließ Schwarz das Projekt jedoch fallen. Nach dem Wiener Börsenkrach im Mai 1873 wird wieder eine neue Vorkonzession an ein neues Konsortium vergeben, welches unter der Leitung des späteren Landeshauptmannes Anton Graf Brandis und Heinrich Böhm ein realistisches Sparkonzept vorlegt und zusammen mit der staatlichen Eisenbahngesellschaft die Strecke gemäß der Konzessionsurkunde vom 11.6.1880 realisiert. Die vom Staat garantierten Gelder betrugen 4,1 Million Gulden gegen erhebliche Betriebseinschränkungen (eingeschränkte Fahrgeschwindigkeiten usw.). Die Gesamtkosten betrugen 5,4 Millionen Gulden, 1,3 Millionen Gulden wurden von den Aktionären aufgebracht, die eine Zinsgarantie von 10% erhielten.

Am 4. Oktober 1881 wurde die Bahnlinie Bozen-Meran eingeweiht. Um die erforderlichen Gewinne einzufahren, verfolgte die private Gesellschaft eine oft beklagte Hochtarifpolitik bei minimalem Service und Komfort für die Reisenden. Man dachte sogar an „zweistöckige Personenwaggons“ mit doppelt so hohen Beförderungskapazitäten bzw. einen auf die etwa im Vergleich zur Südbahn nur halb so hohen Fahrgeschwindigkeiten umgelegt, entsprechend höheren Profit. Die bestens ausgelastete Bahnlinie zur Kurstadt Meran nützte ihr Monopol aus und warf Traumdividenden ab.

Von der Entstehungsgeschichte und dem Management her war die Bahn Bozen-Meran ein Paradebeispiel für die frühkapitalistischen bahnwirtschaftlichen Verhältnisse. Erst durch den Wiener Börsenkrach von 1873 brach die spekulative Bahnwirtschaft zusammen. Viele Gesellschaften mussten vom Staat finanziell aufgefangen werden um den weiteren Betrieb aufrecht zu erhalten. Dies war schließlich der Grund für den Beginn der Staatsbahnära. Soweit sie aber – wie die Bahn Bozen-Meran – in privater Hand blieben, ließen sich weiter gute Geschäfte machen. Den Verstaatlichungsprogrammen waren aus Kostengründen schließlich Grenzen gesetzt.

Trotz all dieser Problematik war die Bahnstrecke Bozen-Meran nicht nur eine Verkehrsverbindung sondern auch der Anlass für den Aufschwung des Etschtales zwischen den beiden Städten. Die Bahntrasse wurde mit einer Etschregulierung verbunden und verläuft auf der östlichen Dammkrone. Die Entwässerung der feuchten und durchmoosten Etschebene führte zur Erschliessung neuen landwirtschaftlichen Grundes vor allem für den Obstbau. Die Grundstückspreise stiegen in manchen Bereichen dabei um 50% - einmal ganz abgesehen von dem wesentlich erleichterten Absatz der Produkte. Einem bis dahin notleidendem Landstrich wuchs Wohlstand zu.

Das Planungsbüro der Bozen-Meraner-Bahn entwickelte unter dem gegebenen finanziellen Druck des Sparkurses der Investitionen in Anlehnung an die Entwurfssystematik des Architekten Wilhelm von Flattich für die Bahnhöfe der Brennerstrecke und der Pustertallinie eine funktionale und gestalterische Grammatik für die Hochbauten. Im Prinzip entstanden die Bahnhöfe mit einem Aufnahmsgebäude, das die Fahrdienstleitung und den Kartenverkauf mit Warteraum sowie eine Wohnung für den Eisenbahnbeamten enthielt und einem Frachtlagergebäude. Gelegentlich kam noch ein kleines Abstellgebäude hinzu. Während die Magazingebäude überwiegend aus Holz konstruiert wurden baute man die Aufnahmsgebäude aus massivem verputztem Mauerwerk. In Putz wurden auch die Fassadengliederungen (Lisenen, Risalite, Bossierungen, Fensterumrahmungen und –überwölbungen usw.) ausgeführt. Die Dächer zeigten eine sorgfältige Detaillierung der Holzteile. Naturstein (meist Porphyr) blieb den Rampen der Frachtbereiche und den knappen Gebäudesockeln vorbehalten.

Aus diesen Elementen entstand ein zusammenhängender Architektureindruck entlang der Bahnstrecke mit hohem Identifikations- und Erinnerungswert. Die größeren, wichtigen Bahnhöfe vermitteln den Eindruck heiterer Landschlösschen – aber ohne Anbiederung an rustikale örtliche Bauformen. Vielmehr zielen Sie auf den Geschmack der damals meist höher gestellten Reisenden ab und vermitteln den Wohnhausgeschmack des Fin de siècle. Immerhin konnte der aufmerksame Passagier jener Tage bereits auf der Anreise sich so auf die Kurstadt Meran mit ihrem dort besonders prächtigen Bahnhof einstimmen. Auf ihm konnten hohe und höchste Herrschaften standesgemäß empfangen werden.

Im Hinblick auf diese Zusammenhänge ist die Unterschutzstellung der Bahnhöfe entlang der Strecke Bozen-Meran ein längst fälliger hoheitlicher Akt zur Bewahrung eines einmaligen baukulturellen Ensembles. Bis auf den ehemaligen Haltepunkt Gargazon und den ehemaligen Bahnhof Meran-Sinichen sind alle Bahnhöfe noch in Betrieb – wenn auch in reduzierter Form und ohne Personal. Sie sollten sensibel und sorgfältig renoviert und unterhalten werden, wie dies mit dem Haltepunkt Vilpian und Meran-Untermais bereits geschehen ist. Dabei dürfen jedoch keine originalen Gebäude abgerissen werden – wie in Vilpian und Meran-Sinichen. Dieser Bahnhof ist in privaten Besitz übergegangen und bedarf möglichst rasch einer umfassenden Renovierung. Er gehört zu den größeren Aufnahmsgebäuden wie Sigmundskron, Lana-Burgstall und Meran-Untermais, die vor allem die Charakteristik des Ensembles der Bahnstrecke Bozen-Meran ausmachen.

Die überkommenen Zeugnisse der Baugeschichte tragen erfahrungsgemäß besonders zur Selbstidentifikation der Bewohner und zu ihrem Heimatgefühl bei. Die Bahnhöfe entlang der Strecke Bozen-Meran sind ein Bestandteil der Baugeschichte für die verkehrstechnische Entwicklung Südtirols auf der nicht zuletzt der Wohlstand unserer Tage beruht. Ein Teil dieses Wohlstandes muß nun auch zum Erhalt und zur Weiternutzung dieser Bauten aufgebracht werden um einer äußeren und inneren Verarmung entgegenzuwirken.


Andreas Gottlieb Hempel
Prof. Dipl.-Ing. Architekt BDA

Brixen, im Juli 2004